Montag, 27. November 2017

Warum nicht auch hier...



Großbritannien

Asterix in Britannien


Ein Dorf probt den Aufstand

Das Dorf Hawes, etwa eine Stunde nördlich von Manchester, liegt mitten im Yorkshire Dales National Park an einem dicht bewaldeten Fluss, hat 1200 Einwohner, zwei Kirchen und ein Restaurant, das Penny Garth Café, das neben dem typisch Englischen Frühstück auch High Tea am Nachmittag serviert, mit Scones und Cream und Marmelade und dreieckig geschnittenen Sandwiches mit Lachs, Schinken oder nur Gurken und Tomaten. Und natürlich Fish and Chips, Steak Pie und Yorkshire Pudding zu Mittag und am Abend.
Vor 100 Jahren hatte Hawes noch doppelt so viele Einwohner. Jahr für Jahr zogen vor allem die Jungen weg, und ein Unternehmen nach dem anderen schloss seine Produktion.
4000 Tonnen Käse
Vor 25 Jahren gab es noch ein einziges Unternehmen, die Wensleydale Creamery, eine Molkerei mit 200 Angestellten, die Milchprodukte und Käse herstellte. Als die Eigentümer ankündigten, auch diese letzte Fabrik von Hawes zu schließen, zog sich der Gemeinderat für eine sehr, sehr lange Sitzung zurück und überraschte die Einwohner am nächsten Tag mit der Ankündigung, die Fabrik gemeinsam mit den Managern zu erwerben und sie weiterzuführen.
Die Entscheidung war damals keine Nachricht wert in den britischen Medien. Wer interessierte sich für eine Käsefabrik in ‚the middle of nowhere‘, die ohnehin bald bankrottgehen würde. Heute gilt Hawes als Symbol der Unabhängigkeit einer winzig kleinen Gemeinde von Behörden und Verwaltungszentralen.
25 Jahre später beschäftigt Wenseydale Creamery immer noch 200 Mitarbeiter und verkauft 4000 Tonnen Käse im Jahr, hat mehrere Angebote von großen Konzernen bekommen, doch der Stadtrat von Hawes denkt nicht daran, sein Prunkstück zu verkaufen.
Wenig später nach der Rettung der Käsefabrik erreichte allerdings die nächste Hiobsbotschaft das Dorf. Die Verwaltung der inzwischen privatisierten Britischen Bahngesellschaft beschloss, die Station in Hawes zu schließen. Es sei kommerziell nicht mehr zu vertreten, gaben die Vertreter der Bahnlinie bekannt, zu wenig Fahrgäste, und die Karten seien zu billig. Zu Beginn versuchte man es noch mit Protesten, sprach in der Verwaltungszentrale der Provinz vor, schrieb Dutzende Briefe und machte Eingaben, doch es war alles sinnlos.
Motiviert durch den Erfolg mit der Käsefabrik beschloss dann der Gemeinderat, auch dieses Problem selbst in die Hand zu nehmen. Sie gründeten eine Busgesellschaft, kauften mit den Gewinnen aus der Käseproduktion ein paar Busse, und boten der Bevölkerung regelmäßige Verbindungen zu den umliegenden Bahnhöfen an.
Die ‚Little White Bus‘ Gesellschaft befördert heute 65.000 Passagiere im Jahr mit 10 Mini-Bussen, nimmt etwa 60.000 Pfund ein und beschäftigt nur acht Teilzeit-Mitarbeiter. 53 Freiwillige, hauptsächlich Pensionisten, manche von ihnen arbeiteten früher als Busfahrer, unterstützen ohne irgendeine Bezahlung das Unternehmen. Als nächste Investition kaufte die Busgesellschaft auch noch einen Range Rover, der Kinder von entlegenen Bauernhöfen abholt und zur Schule bringt.
Doch der weitere Abbau der institutionellen Strukturen ließ sich nicht aufhalten. In den folgenden Jahren informierte das ‚Royal Mail Service‘, dass das lokale Postamt geschlossen werde. Wenig später gab es auch keine Bibliothek und keine Bank mehr.
Hawes war mit dieser Entwicklung keine Ausnahme in Großbritannien. Im ganzen Land kommt es außerhalb der großen Städte zu einer ‚Veralterung’ der Gesellschaft, immer mehr Dörfer verfallen, werden durch Wegzug der jüngeren Generation entvölkert. Manche versuchen sich als Touristen-Attraktionen mit Festivals und Ausstellungen zu retten. Der normale Alltag mit Kindergärten, Schulen, Arbeitsplätzen, Pensionisten-Heimen, Geschäften, Restaurants, Kinos usw. weicht einer Kulisse, die den Durchreisenden die Illusion bieten, wie englische Dörfer einmal ausgesehen, und wie Menschen in ihnen gelebt haben. Auch die Hotels schließen, da Touristen immer nur auf der Durchreise und auf ihrem Besuchsplan noch andere Dörfer in der Umgebung aufgelistet sind. Bäckereien und Fleischer werden zu Souvenirläden, und im Pub auf dem Hauptplatz gibt es ein billiges Mittagsmenu, weil abends die meisten Reisenden schon wieder zu Hause sind.
Hawes scheint die große Ausnahme zu sein. Nach Abzug von Post, Bank und Bibliothek verkaufte der Gemeinderat jedes einzelne Gebäude dieser drei Institutionen und errichtete mit den Einnahmen mitten im Dorf ein neues Gemeindezentrum. In diesem gibt es jetzt einen Postschalter, eine Bibliothek und eine Zahlstelle, die zwar keine vollwertige Bank ist, jedoch Zahlungen für Miete, Steuern und Kredite annehmen kann. Mit der lokalen Polizei einigte man sich, dass auch ihr Gebäude verkauft werde, und sie ebenfalls ins Gemeindezentrum übersiedelt.
Die neueste Aktion des Dorfes ist die Übernahme der Tankstelle, die geschlossen werden sollte. Die nächstliegende Möglichkeit für die Dorfbewohner ihr Fahrzeug zu tanken, wäre 50 Kilometer weit entfernt gewesen, also beschloss auch diesmal der Gemeinderat, sie einfach zu übernehmen.
Sozialismus im Dorf
Ein Vertreter der Verwaltung von Hawes erklärte in einem Interview, dass man einen völlig anderen Weg als andere Gemeinden in der Umgebung gehe. Das Ziel sei die völlige Selbstverwaltung und Unabhängigkeit von den Behörden in der Hauptstadt. Sie hätten irgendwann einmal mit dem Betteln aufgehört, erklärte er. Zum Teil aus Gründen des Überlebens, aber auch des Selbstwertes und des Stolzes. Man habe es sattgehabt, immer nur zu jammern und auf Unterstützungen zu warten.
Selbst die Unternehmen scheinen die Strategie der Dorfverwaltung zu unterstützen. Die Benzingesellschaft bot einen langfristigen Kredit für die Übernahme der Tankstelle, der Konzern, der die Käsefabrik schließen wollte, erklärte sich bereit, einen großen Teil der Produktion jedes Jahr abzunehmen, und die Bushersteller gewährten einen Sonder-Rabatt für die zehn Mini-Busse.
Das Dorf mit all den Einrichtungen und den Investitionen wird mittels einer kommerziellen Partnerschaft kontrolliert und verwaltet. Jeder Dorfbewohner ist Mitglied und hat auch Stimmrecht. All die Einrichtungen würden allerdings nicht funktionieren, wenn nicht ein Großteil der Mitarbeiter unentgeltlich für sie arbeitete. Es hat sich dadurch in Hawes ein Gemeinschaftsgefühl entwickelt, das es in anderen Dörfern nicht gibt.
Einer der Busfahrer erzählte in einem Interview, dass er Passagiere habe, die einfach nur im Kreis fahren würden. Sie steigen bei einer Station ein, ein paar andere bei anderen Stationen, die oft eine Stunde Fahrt voneinander entfernt sind. Sie müssten eigentlich nirgendwohin fahren, treffen sich jedoch im Bus und unterhalten sich, bis jeder wieder bei seiner Station angekommen ist und wieder nach Hause geht.
Der neueste Plan der Gemeinschaft ist der Bau von billigen Wohnungen. Man habe bereits mehrere Grundstücke von Mitgliedern billigst angeboten bekommen und werde nächstes Jahr mit dem Bauen beginnen.
So soll die junge Generation motiviert werden, hier im Dorf zu bleiben, Familien zu gründen und nicht in die umliegenden Städte zu ziehen, begründete John Blackie, der Sprecher der Gemeinschaft das Vorhaben. Blackie möchte, dass Hawes zu einem Vorbild für andere Gemeinden werde. Sein Ziel ist es, eine Organisation von Dörfern zu bilden, die sich auf ähnliche Art und Weise selbst verwalten. Seiner Meinung nach liege die Zukunft eben nicht in den großen Metropolen mit Millionen von Menschen, sondern in kleinen, überschaubaren Systemen, in denen zwischenmenschliche Beziehungen und ein Gemeinschaftsgefühl wichtig seien. Jeder würde hier unmittelbar den Erfolg seiner Bemühungen und seines Einsatzes miterleben.


Inzwischen folgten zwei weitere Dörfer, Totnes im Süd-Osten Englands und Lewes südlich von London dem Vorbild Hawes und bildeten eine ähnliche Struktur in ihren Gemeinden. Bei etwa 4500 Dörfern in Großbritannien mit weniger als 20.000 Einwohnern ist das eine winzige Minderheit, die allerdings mit großem Interesse beobachtet wird.